Das englische Wort „Bias“ bedeutet übersetzt „Voreingenommenheit“ oder auch „Einseitigkeit“. Anti-Bias-Ansätze in der pädagogischen Arbeit und der Begleitung von Bildungseinrichtungen (Kitas, Schulen, usw.) zielen darauf, Schieflagen sichtbar zu machen und Diskriminierungen abzubauen.

In einem Prozess, der an den eigenen Erfahrungen der Teilnehmenden ansetzt, erfolgt eine Sensibilisierung für eigene Vorurteile und verschiedene Formen von Diskriminierung. Oft können Menschen Diskriminierungen, von denen sie selbst verletzt werden, gut benennen. Ein wichtiger Schritt ist, auch zu erkennen, wie ich von Strukturen privilegiert werde, und wie Privilegien meinen Blick einschränken. Denn das Problem beginnt nicht erst, wo Menschen einseitig handeln – es beginnt schon, wo Menschen Situationen einseitig wahrnehmen. Anti-Bias wird auch mit „vorurteilsbewusst“ übersetzt, um deutlich zu machen, dass niemand vorurteilsfrei ist, sondern gelernte Bilder unbewusst wirksam sind. Anti-Bias geht es nicht nur um einzelne diskriminierende Handlungen, sondern der Blick wird ebenso auf „die Luft, die sie umgibt“ gelenkt, den Kontext, auf gesellschaftlich geteilte Bewertungen und strukturell ungleiche Verteilung von Macht. Die Erkenntnis des eigenen Mitspielens in diskriminierenden Strukturen ist ein wichtiger und schwieriger Punkt. Mir einzugestehen, dass ich Teil bin von Ungerechtigkeiten, die ich doch ablehne und hinzusehen, wie ich sie stabilisiere, ist oft mit Scham- und Schuldgefühlen verbunden. Doch der Schritt ist notwendig, um handlungsfähig zu werden, um konkret alternative Betrachtungs- und Handlungsweisen zu entwickeln: Wie gestalten wir Praxen so um, dass nicht-diskriminierendes, vorurteilsbewusstes Verhalten unser Miteinander prägt?

Der Anti-Bias Ansatz beschäftigt sich mit verschiedenen Formen von Diskriminierung und ihren vielschichtigen Verstrickungen (wie z.B. Gender, Klasse, sexuelle Lebensweise, Alter, rassifizierende Zuschreibungen, körperliche Gesundheit, usw.). Es wird die gesellschaftliche Bewertung von Unterschieden betrachtet und beinhaltet die Auseinandersetzung mit struktureller Diskriminierung.

Zum Hintergrund von Anti-Bias

Anti-Bias als pädagogischer Ansatz für Bildungsgerechtigkeit mit einem Schwerpunkt auf Kleinkindpädagogik hat seine Wurzeln in der US-amerikanischen „social justice“ Bewegung (s.a. Louise Derman-Sparks). In der Praxis wurde er vielfältig weiterentwickelt: Kinderwelten.net erstellte ein umfassendes Konzept zur Praxisentwicklung in Kindergärten, das vielfach praktisch erprobt ist, südafrikanische PädagogInnen (elru.co.za) nutzten ihn in Südafrika für Menschen aller Altersstufen, um die „Apartheid in den Köpfen“ zu verändern. Mit „Vom Süden lernen“ von inkota.de kam anti-bias mit südafrikanischen TrainerInnen in die erwachsenenpädagogische Weiterbildung. Trainer_innen (z.B. des anti-bias-netz.org) haben ihn für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen kontinuierlich weiterentwickelt.

Methoden und Ziele eines Anti-Bias-Trainings

Menschen zu motivieren und zu befähigen, Diversität zu respektieren und Diskriminierung zu widerstehen, sind Ziele des Trainings. Zunächst geht es darum, sich bewusst zu werden, wie Diskriminierung funktioniert, dass es nichts ist, was sich auf rechtsextreme oder “böse gemeinte” Akte beschränkt. Mit Anti-Bias-Methoden werden Rassismus, Sexismus und andere Formen von Diskriminierung im Alltag, in Familie, Beruf und in Institutionen greifbar.

Zu Beginn eines Trainings stehen die Auseinandersetzung mit den eigenen Erfahrungen mit Diskriminierung und das Lernen miteinander. Manche Übungen mögen zunächst banal aussehen, doch sie wirken nach: Neue Fragen werden angestoßen, Verwirrung bleibt zurück und begleitet in den Alltag. Ein Anti-Bias-Seminar ist als Einstieg in eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit Diskriminierung im Alltag zu verstehen und soll unterstützen, vorurteilsbewusstes Verhalten zu entwickeln. Elemente eines Trainings sind: Einander begegnen und miteinander ins Gespräch kommen über: Wie erleben wir Diskriminierung? Welche Gefühle sind damit verbunden? Welche persönlichen Strategien haben wir im Umgang mit Diskriminierung entwickelt? Dabei betrachten wir sowohl die Position als Diskriminierte* als auch als Diskriminierende*.

Im weiteren Verlauf des Trainings schärfen wir unsere Wahrnehmung für Ausgrenzung. Gerade, weil vieles „normal“ und unumgänglich erscheint, ist es notwendig, einen Blick für eigene Privilegien zu entwickeln. Dabei analysieren wir Strukturen von Dominanz und Unterdrückung, das Zusammenspiel privater und gesellschaftlicher Ebenen. Es geht nicht nur um eine erweiterte Wahrnehmung, sondern auch darum, ins Handeln zu kommen und mit Veränderung zu beginnen: ausgrenzende Strukturen zu benennen, uns gegen diskriminierende Verhaltensweisen zu wehren. Wo können wir uns einmischen und Veränderungen bewirken? Wie können wir Bündnisse initiieren?

Aus der Praxis:„Ich sehe was, was du nicht siehst“

„Ich kann hier keine Diskriminierung sehen“ ist eine häufige Antwort, wenn wir auf Schieflagen aufmerksam machen. Es ist, als ob eine Person sagen würde: „Du stehst auf meinem Fuß, bitte gehe runter“ und zur Antwort erhält „Aber ich bin ein guter Mensch. Und außerdem merke ich es gar nicht“. In der Bildungsarbeit gibt es die Chance, Räume zu schaffen, um diese Dynamiken zu reflektieren.

Single stories sichtbar machen, Dominanz reflektieren, zum Perspektivwechsel einladen In Seminaren haben wir Möglichkeiten, einseitige Perspektiven zum Thema zu machen. Wir können hier Chancen nutzen, um exemplarisch bewusst zu machen, dass es einseitige Bilder und dominante Diskurse gibt. Beispielsweise: Welche single story steckt hinter dem Begriff „Entdeckung Amerikas“? Warum werden unterworfene Menschen bis heute „Indianer“ genannt und ist es vielerorts noch sozial akzeptiert, sich als solcher verkleiden? Warum sehen wir nicht, was im Hintergrund verhandelt wird – und wie können wir es sehen lernen? Wie können wir Anstöße und Irritationen nutzen, um durch Perspektivwechsel mehr in den Blick zu bekommen? Wie unterstützen wir Menschen, um einen Blick für unbewusste Dominanz zu bekommen?

Dabei gilt es immer wieder, Dinge zu hinterfragen, die wir für normal halten. Was braucht es, um in Frage zu stellen, womit wir aufgewachsen sind, was uns als selbstverständlich vermittelt wurde? (Apropos: Welches Wissen wird an Schulen vermittelt, welches nicht?) Wie lernen wir eigene Privilegien wahr zu nehmen? Wie merken wir, wenn wir jemandem auf dem Fuß stehen und gehen runter, spätestens, wenn wir drauf hingewiesen werden?

Wenn normal nicht mehr normal ist…

Typisch für die Lernprozesse, die bei Anti-Bias angestoßen werden, sind Gefühle von Verunsicherung und Verwirrung. Das gehört dazu, wenn dominante Lesarten von Realität in Frage gestellt werden. Die Frage: „Wenn das nicht stimmt, was ist dann wirklich wahr?“ verunsichert. Und darauf gibt es keine leichte Antwort. Vielleicht, dass sich immer wieder Türen öffnen, und es ist wie eine Reise, bei der wir viele kleine Steine aneinandersetzten, wie ein Mosaik, das uns Wege und Richtungen eröffnet.

Für ein gleichberechtigtes Miteinander ist wichtig, dass wir uns für marginalisierte Perspektiven öffnen, erforschen, was Strukturen von Dominanz mit unserer Wahrnehmung gemacht haben – auch wenn das den sicheren Boden unter den Füßen manchmal zum Schwanken bringt. Einmal begonnen ist die Reise aufregend: sich informieren, Selbstverständliches hinterfragen, die Bedeutung von Begriffen erforschen, „andere“ Texte suchen, Menschen mit weniger Privilegien sehr gut zuzuhören, ausgegrenzte Perspektiven ernst nehmen und nicht als „überempfindlich“, „aggressiv“, oder „unangemessen“ abwehren.

Haltung ist wichtiger als Methoden

Worum es uns bei der Anti-Bias Arbeit geht, sind weniger die Methoden als solche. Die Übungen sind für uns Türöffner, schaffen Möglichkeiten ins Gespräch zu kommen, Prozesse anzustoßen zu Themen, die sonst nur schwer zu berühren sind: erkennen, wie ich Teil bin von Ungleichverhältnissen, mich hinterfragen mit meinen Werten und Normen und meinem Mitspielen in Systemen von Dominanz. Dabei stehen politische Analysen und soziopsychologisches Prozesse nicht gegeneinander, sondern in enger Verbindung.

Anti-Bias möchte Räume schaffen, um eigene Erfahrungen zu teilen, Überzeugungen zu hinterfragen und neue Verhaltensweisen auszuprobieren. Voraussetzung ist eine wertschätzende Atmosphäre in der Gruppe mit Platz für neue Erkenntnisse und auch für Konflikte. Konflikte können ein wertvoller Teil der Anti-Bias Arbeit sein, wenn sie angesprochen werden und wir sie, ohne zu beschuldigen, als Lerngelegenheiten nutzen.

Dabei muss darauf geachtet werden, dass nicht Dominierende auf Kosten von Dominierten lernen. Widerstände sowie Schuld- und Schamgefühle sind Teil von Lernprozessen und müssen achtsam begleitet werden.

“Zwar geht die Anti-Bias-Arbeit nicht davon aus, dass pädagogische Arbeit politische Bewegungen ersetzen könnte, aber der Anti-Bias-Ansatz zielt ausdrücklich auf eine Transformation hin zu einer diskriminierungsfreien Gesellschaft. Demnach bedeutet Anti-Bias-Arbeit immer auch eine klare politische Positionierung, die den Abbau von Machtasymmetrien und Diskriminierungen auf allen Ebenen in der Gesellschaft einfordert.” (Bettina Schmidt) Anti-Bias ist viel mehr als eine Methodensammlung!

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